Prinzipien
Shorinji Kempo ist weit mehr als eine Kampfkunst – es ist eine ganzheitliche Lehre, die Ethik, Selbstentwicklung und körperliche Disziplin vereint. Gegründet auf sechs essenziellen Prinzipien, die tief in der Philosophie des Zen-Buddhismus verwurzelt sind, fördert sie nicht nur technische Exzellenz, sondern auch geistige und moralische Stärke.
Ken Zen Ichinyo
Körper und Geist sind eine Einheit
Ken Zen Ichinyo beruht auf der Erkenntnis, dass physische und geistige Ebenen untrennbar miteinander verbunden sind: Geistiges Wohlbefinden beeinflusst die körperliche Verfassung, während physische Stärke den mentalen Zustand prägt.
So Doshin, der Begründer von Shorinji Kempo, betonte stets, dass weder körperliches noch geistiges Training für sich allein ausreicht. Wahre Entwicklung entsteht nur durch ihr harmonisches Zusammenspiel. Gleichzeitig sah er Ken Zen Ichinyo in einem noch größeren Kontext – als das untrennbare Verhältnis zwischen Gedanken und Handlungen. Wahre Überzeugung zeigt sich nicht im bloßen Denken, sondern erst in der Tat.
Shorinji Kempo folgt diesem Weg: Es verbindet körperliche Disziplin mit geistiger Klarheit und ermutigt dazu, Überzeugungen in konkrete Handlungen zu verwandeln.
Riki Ai Funi
Stärke und Liebe stehen zusammen
So Doshin erkannte, dass reine Stärke ohne Mitgefühl zu bloßer Gewalt wird, während Liebe ohne Kraft machtlos bleibt. Wahre Stärke entsteht erst durch das Gleichgewicht beider Elemente.
Mitgefühl und Entschlossenheit werden oft als Gegensätze betrachtet, doch sie bedingen einander. So Doshin betonte, dass Überzeugung allein nicht genügt – manchmal ist es notwendig, entschlossen zu handeln, um Ungerechtigkeit zu begegnen. Stärke ist dabei kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um Verantwortung zu übernehmen und für andere einzustehen.
Shorinji Kempo lehrt, dass Mut, Mitgefühl und Kraft nur gemeinsam wahre Stärke ergeben. Wer in der Lage ist, entschlossen zu handeln und zugleich mitfühlend zu bleiben, verkörpert den wahren Geist von Riki Ai Funi.
Shushu Kōjū
Erst verteidigen, dann angreifen
Shorinji Kempo ist eine Kampfkunst der Selbstverteidigung, die darauf abzielt, sich gegen einen Angriff zu schützen, ohne den Gegner zu vernichten. Die Techniken basieren überwiegend auf defensiven Bewegungen – das oberste Ziel ist es, nicht verletzt zu werden. Wahre Selbstverteidigung bedeutet, nicht zu verlieren.
So Doshin betonte, dass es nicht darum geht, starke Kämpfer hervorzubringen, sondern Menschen, die sich behaupten können. In einer Konfrontation geht es zunächst darum, einen Angriff abzulenken, auszuweichen und einen stabilen Stand zu bewahren. Erst dann folgt eine angemessene Reaktion.
Shorinji Kempo existiert außerhalb des Prinzips von Sieg oder Niederlage – es ist keine Wettkampfdisziplin, sondern eine Kunst des Schutzes. Die wahre Essenz von Shushu Kōjū liegt in der Fähigkeit, sich selbst und andere zu verteidigen, ohne unnötige Gewalt anzuwenden. Denn solange man standhaft bleibt, hat man nicht verloren.
Fusatsu Katsujin
Nicht töten, Leben geben
Shorinji Kempo kennt keine Leitsätze wie „ein Schlag, sicherer Tod“. Stattdessen steht der Grundsatz im Mittelpunkt, nicht zu verletzen, sondern zu bewahren. Ursprünglich lautete das Prinzip „nicht töten, nicht verletzen“, doch So Doshin formulierte es später um in „nicht töten, Leben geben“. Das Ziel ist nicht, den Gegner zu besiegen, sondern ihn davon zu überzeugen, sein Handeln zu überdenken und aufzugeben.
Wahrer Sieg entsteht nicht durch Überlegenheit im Kampf, sondern durch Einsicht und Verständigung. So Doshin betonte, dass derjenige, der durch Kämpfen siegt, nicht wirklich gewinnt. Nur wenn es gelingt, den anderen zu überzeugen, ist der Konflikt wahrhaft gelöst.
Diese Philosophie spiegelte sich auch in seinem eigenen Handeln wider. Als er nach der Gründung von Shorinji Kempo von sogenannten „Dojo-Zerstörern“ herausgefordert wurde, nahm er ihre Herausforderungen an – nicht, um sie zu demütigen, sondern um sie zu Schülern zu machen. Für ihn war es nicht der Zweck einer Kampfkunst, andere zu besiegen, sondern sie zu lehren.
Fusatsu Katsujin bedeutet, nicht nur Leben zu verschonen, sondern aktiv Lebenswillen und Lebensfreude zu fördern – bei anderen und in sich selbst.
Gōjū Ittai
Hart und Weich vereint
Shorinji Kempo lehrt den Schutz vor Angriffen, indem es eine Vielzahl an Techniken bietet, um auf unterschiedliche Situationen zu reagieren und den Gegner unter Kontrolle zu bringen. Dabei wird zwischen „harten“ Techniken (gōhō) – bestehend aus Schlägen, Tritten und Blocks – und „weichen“ Techniken (jūhō) – wie Hebeln, Würfen und Befreiungen – unterschieden.
Während Anfänger beide Disziplinen getrennt erlernen, verschwimmen mit fortschreitender Praxis die Grenzen. Die wahre Kunst liegt darin, beide Elemente zu beherrschen und sie je nach Situation intuitiv zu kombinieren. Dieses Prinzip, bekannt als gōjū ittai, beschreibt die perfekte Balance zwischen Härte und Nachgiebigkeit.
So Doshin betonte, dass es nicht darum geht, bloße Kraft zu demonstrieren, sondern auf Veränderungen flexibel zu reagieren. In einer Auseinandersetzung zählt nicht rohe Stärke, sondern kluge Anpassung. Gōjū ittai geht jedoch über den rein kämpferischen Aspekt hinaus – es ist eine Philosophie, die auch im täglichen Leben Anwendung findet. Wer lernt, Härte und Nachgiebigkeit in Einklang zu bringen, kann Herausforderungen mit Klarheit und Entschlossenheit begegnen.
Kumite Shutai
Miteinander wachsen
Kumite Shutai – das gemeinsame Üben als Fundament des Lernens. Kenshi trainieren nicht allein, sondern miteinander, um sich gegenseitig in ihrer Entwicklung zu unterstützen und zu stärken.
Dieses Prinzip hat zwei wesentliche Aspekte:
Zum einen ist es technisch notwendig. Shorinji Kempo basiert auf defensiven Techniken, die nur in Reaktion auf einen Angriff funktionieren. Ohne einen Partner, der die Rolle des Angreifers übernimmt, können Timing, Distanz und Präzision nicht realistisch erlernt werden. Durch den ständigen Wechsel zwischen Angreifer und Verteidiger helfen sich beide Partner, ihre Fähigkeiten zu verfeinern und ihre Technik zu verbessern.
Zum anderen spiegelt das Partnertraining die tiefere Philosophie von Shorinji Kempo wider: Zusammenarbeit, Verantwortung füreinander und gegenseitiges Vertrauen. So Doshin kritisierte die Denkweise, die nur auf Sieg oder Niederlage ausgerichtet ist. Er betonte, dass wahre Stärke nicht darin liegt, andere zu besiegen, sondern darin, gemeinsam zu wachsen.
Die Inspiration für dieses Prinzip stammt aus einem Wandgemälde des Shaolin-Tempels, das chinesische und indische Mönche zeigt, die mit Freude und Respekt miteinander trainieren. Diese Haltung soll über das Training hinaus auch unser alltägliches Leben prägen. Denn wer im Training lernt, Vertrauen zu schenken und anzunehmen, wird auch im Leben mit mehr Achtsamkeit und Verständnis für andere handeln.